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Exkursionstagebuch Kapverden

Das komplette Tagebuch

Veröffentlicht am: 23.11.13

1. Tag: We gonna change the aircraft anyway

Um 02.30 Uhr machte sich unsere Gruppe (Bianca, Jan-Erik, Jeanette, Meret, Frau Dengg und Herr Wentorf) von Heikendorf auf in Richtung Äquator. Man kann den gespenstisch leeren Flughafen um halb vier getrost überspringen, ebenso, wie den verschlafenen Flug nach Lissabon. Interessant wird es als Jeanette auf die bereits zweimalige Durchsage aufmerksam macht, es würde heute gestreikt, weshalb man bitte „as soon as possible“ zur Passkontrolle kommen solle. Endlich ging es los. Wir verließen Europa, zum ersten Mal. Mit diesen Schritten in dieses Flugzeug. Aber denkste. Das von Herrn Wentorf beschworene Kapverden-Abenteuer warf erste Schatten voraus - gepaart mit der kapverdischen Mentalität. Nachdem wir ein paar Minuten in dem Flugzeug gesessen hatten, das uns nach Sao Vicente bringen sollte, ergoss sich ein Schwall portugiesischer Worte über uns. Irgendwas mit „problemos“. Wie diese Reaktion in Deutschland ausgefallen wäre, muss man wohl niemandem erzählen. Im Flugzeug fast voller kapverdischer Bürger reagierte man mit Lachen und Hände klatschen. Kurz darauf wurde dann nochmal auf Englisch darauf hingewiesen, dass dieses Aircraft Probleme mit der Klimaanlage habe. Deswegen müssten wir es wechseln. Ein wenig Geduld – „we ask you for understanding“. Das wunderte und nicht sonderlich, ragte doch direkt über unseren Köpfen ein poröser gerissener Schlauch aus der Decke. Enthusiastisch wollten wir uns an der Problemlösung beteiligen und meldeten unseren Schlauch beim Steward. Antwort... „We are gonna change the aircraft anyway“. Nach längerem Warten durften wir in Bussen drei Runden um den Flugplatz fahren bis wir ein neues Flugzeug fanden. Nachdem wir planmäßig schon vor langer Zeit hätten landen sollen, passieren wir jetzt die Kanarischen Inseln. Wir haben jetzt 16 Stunden hinter uns und haben noch einiges vor uns, trotzdem überwiegt die Vorfreude. Es war ein langer Reisetag, der sich am Ende ausgezahlt hat. Wir sind endlich auf Sao Vicente! Schon beim Landeanflug hat uns die karge Natur fasziniert. Wir waren wie gebannt. Kein Baum wächst auf den Bergketten, nur ein paar Flechten sind zu sehen. So eine kahle Schönheit. Auf der Ladefläche eines Pickups wurden wir nach Mindelo gebracht. Die Aussicht über das natürliche Hafenbecken von Mindelo ist unbeschreiblich. Alle Häuser sind eckig, bunt, haben Dachterassen mit Wassertanks. Überall laufen streunende, bellende Hunde. Überall ist Musik, von irgendwo kommt ein alles übertönender sakraler Gesang. Ein Chor singt mitten auf der Straße. Wir essen noch  einen Sägefisch und fallen nach 23 Stunden in unsere Betten zum Bellen der Hunde und der Musik von Sao Vicente.  

2. Tag Mindelo hat keine Piraten und kein Internet

Es ist Sonntag. Heute haben wir unser Schlafdefizit etwas aufgeholt und schliefen deshalb etwas länger. Frühstück hat uns Manuel gemacht. Ihm gehört das Apartment, in dem wir seit heute Nacht wohnen. Manuel beantwortet uns bereitwillig unsere ersten Fragen über Kap Verde, die Landschaft, die Inseln, die Geschichte. Nach einer Projektbesprechung (die viele Fragen an uns weitergibt), machen wir uns auf den Weg, zu den Piraten. Herr Wentorf hat gelesen, dass hier Hochseepiraten ihr Lager hatten. Sein persönliches Ziel für den Tag neben unserem Projekt: Einen Stein finden, der von Piraten auf einen anderen gesetzt wurde oder so ähnlich. Der erste Schritt...Museum. Das hat sonntags auf. Heute ist das Museum trotzdem zu. Dann gehen wir direkt an den Fischerstrand für unser eigentliches Projekt... Grob und für den Laien zusammengefasst Müll, Plastikmüll. Es geht um Mikroplastik im Ozean. In der Bucht liegt so ziemlich alles in unvollständigen Puzzleteilen. Hundekieferknochen, Fischwirbel, Schuhe, wunderschöne Muscheln und eben Plastik in allen Formen und Größen. Wir fotografieren und überlegen, wie wir daraus überhaupt Erkenntnisse über den Müll im Meer ziehen können. Unser Plan, den Müll nach Ursprung, Zersetzungsgrad und so weiter zu kartieren und später Küstenabschnitte zu kartieren, an denen Unmengen von anderen Inseln und anderen Kontinenten angespült werden, klingt erstmal logisch, zumindest für uns. Danach laufen wir quer durch die alte Hafenstadt Mindelo auf den Spuren von damals. Wir versuchen zu verstehen, was hier früher war.   Im Kern die bunten, eckigen Häuser aus dem 19. Jahrhundert, Marktplätze, der Fischmarkt...nur eben keine Piraten. Jetzt zum Abend nur noch Internet und alles ist perfekt. Doch das ist gar nicht so einfach. Nach langer Sache kommen wir zu einem Platz, wo die Verbindung halbwegs funktionieren soll, naja soll. Um unsere weitere Odyssee gänzlich zu verstehen, muss man einen gewissen Jonny kennen, oder nein, man darf ihn gerade nicht kennen. Wir jedenfalls kennen ihn nicht wäre er doch die Lösung zu so vielen Problemen. Jonny hat einen kleinen Handel mit allem möglichen (im Wohnzimmer), er wechselt Geld und er hat Internet. Kleines Problem, eher alles entscheidendes Problem: Jonny schläft noch. Nach weiteren zwei heißen Tipps, wo es eine Verbindung zur Außenwelt geben könnte, finden wir eine Telefonstube und zwar mit Internet. Der Blog ist gerettet und wir können nach dem Abendessen gegen elf zufrieden ins Bett. Morgen geht es früh in die Schule. Dann stellen wir unsere Projektideen den kapverdischen Schülern vor.  

 

3.Tag: Cachupa, grüne Bohnen und Andre Rieu

Montag. Montag heißt früh aufstehen und zur Schule gehen, auch auf den Kap Verden - 5000 km von der Schule entfernt. Die Schule ist eingezäunt und bewacht. Wir werden freundlich begrüßt und in verschiedene Räume gesetzt; bis wir an einer Andacht in der Kapelle teilnehmen dürfen, bei der  ein Video von Andre Rieu mit einem Gospelchor gezeigt wird – passenderweise vom Kirchentag in Hamburg. Dann werden wir in einen Klassenraum geführt, in dem uns der Direktor noch einmal begrüßt. Dann müssen Herr Wentorf und Sally ran. Die beiden halten Vorträge über Mikro- und Makroplastik, anschließend hören wir einen Vortrag von “unseren” drei Kap Verdianern, dem Kennenlernen habe ich mit zunehmender Aufregung entgegen geschaut, sie begrüßen uns übrigens mit Küsschen links, Küsschen rechts. In einem anderen Raum sitzen wir dann nur mit Frau Mimi Lopes, der Lehrerin und Larissa, Ronaldo und William. Dananch haben wir Schüler uns mit unseren Partnern von der restlichen Klasse etwas separiert und ein weiteres Mal ”Koffer packen” gespielt mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad – dieses Mal auf Englisch, während Sally und Herr Wentorf unsere weiteren Schritte zu planen. Über Mittag nehmen wir die Suche nach den Piraten wieder auf und besuchen nun endlich das Museum an der Bucht, beidem man aufgrund seiner Turmgestalt zunächst  vor allem die Aussicht genießen muss. Einige Tafeln an den Wänden zeigen Schwarzweiß-Fotos aus der Kolonialzeit, einiges erkennen wir auch wieder. Aber leider keine Piraten… Nachdem wir eine Runde über den Fischmarkt gedreht haben, essen wir eine Cachupa, das Kapverdische Nationalgericht aus Bohnen und Mais, mhm. Dann geht in einer Markthalle Jeanettes größter Traum in Erfüllung, wir kaufen den wohl ungewöhnlichsten Weihnachtsschmuck unseres Lebens, eine fünf Kilo schwere Bananenstaude, die wir von da an grün und unreif durch ganz Mindelo schleppen… Nach diesen kleinen Abenteuern kehren wir in die Schule zurück und beginnen mit der Entwicklung von Fragestellungen, Hypothesen und möglichen Methoden zur Beantwortung dieser Fragen. Es geht um die Haltung zu Plastik, Recycling und die Kartierung von Plastik an den Stränden und die Untersuchung von Mikroplastik im Meer. Alles im Vergleich zwischen Deutschland und den Kapverden.  Nach dieser  Arbeitsphase treffen wir abends Herrn Reitmaier, der sämtliche Literatur und Karten von und über die Kap Verden geschrieben hat und einem so ziemlich alles über die Inseln erzählen kann. Man möchte meinen, er sei seit der Entstehung der Kap Verden hier gewesen und als würde er jeden der 500.000 Einwohner kennen. Er erzählt über seine Arbeit und zeigt sich sehr interessiert an unserem Projekt. Am Donnerstag wird er unsere Exkursion zu den Vulkanen begleiten. Den Vulkan, den Herr Wentorf uns dann anhand eines Teelichts und einer Servierte erklärt hat, sollen wir nicht von Innen sehen. Nach einem kurzen Abstecher ins Apartment (endlich können wir die Bananenstaude bunkern) gehen wir noch in die geheiligte Telefonstube, um den Blog zu schreiben. Der Tag endet in der Nachtluft mit der Sichtung von Glühwürmchen.

 

4. Tag: Tote Fische

Beim Frühstück kommt der Kapverden-Experte, Herr Reitmaier, in unserem Apartment vorbei. Der damalige Tropenmediziner erzählt bei einem Kaffee von der einen oder anderen Epidemie auf den Kapverden. Danach haben wir uns auf den Weg in das INDP, das Forschungsinstitut auf den Kapverden, gemacht, wo wir die Wissenschaftlerin Ivanice treffen, die die deutsche Eigenschaft hat, pünktlich zu sein. Wir starten mit einer kurzen Lagebesprechung. Nachdem die anderen Kapverdianer aus unserem Projekt langsam eingetrudelt sind, erhalten wir erstmal eine Führung durch das INDP. Dann sehen wir Moränen im Institut, tote Moränen, von außen und vor allem von innen.  Zwei Männer nehmen sie auseinander, um deren Länge, Größe, Gewicht und das Gewicht der Geschlechtsorgane zu ermitteln. Ronaldo kann nicht mehr atmen ohne zu würgen, Jeanette geht es auch gerade nicht soo gut. Jeanette und Bianca werden im Seminarraum produktiv. Wir gestalten einen Forschungsplan für das Mapping für den Kunststoff, der aus dem Atlantik hier angespült wird. Das machen wir dann mit den anderen bei unserer Exkursion am Donnerstag. Inzwischen weiter im Sezierraum: Es werden Plastikhandschuhe verteilt und wir durften selbst ran. Meret hatte eine männliche Muräne, 91 cm, etwas über ein Kilogramm schwer. Plastik finden wir nicht darin. Wir finden aber von den Mitarbeitern heraus, dass sie in Thunfischen hin und wieder Plastikstücke von 5cm Größe finden. Schon ein komisches Gefühl richtig echte Organe aus richtig echten Tieren herauszuschneiden. Mittags essen wir mal allein mit den anderen Schülern. Sally und Herr Wentorf sind mit Ivanice verabredet. Zuhause im Apartment treffen wir uns auf der „Dachterasse“ und diskutieren das Mapping-Verfahren, entwerfen Fragen für den Fragebogen und die Interviews. Nach dem Sonnenuntergang ist nicht nur das Licht draußen weg, sondern auch drinnen. Stromausfall – in ganz Mindelo. Wir verteilen Kerzen in unseren Zimmern, eine brennt nun im Bad. Im Flur kommen wir uns mit Kerzen entgegen und erinnern uns dabei an einen Horrorfilm. Dann suchen wir etwas, wo wir noch essen können. Ein zeltartiges Restaurant hat trotz Stromausfall geöffnet. Der Tag endet mit einer viel zu lange brennenden Banane. Solange, dass sich die Kellnerin mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck entnervter Resignation gegen einen Pfosten fallen lässt. Ein Seitenblick zu Sally - das Lachen kommt hoch. Bei Herrn Wentorf bricht es sich seine so verzweifelt versperrte Bahn. Wir können kaum aufhören, Tränen fließen vor Lachen. Haben uns hier sonst noch nicht so daneben benommen. Wir geloben Besserung. Pünktlich vor Mitternacht kommen wir zurück ins dunkle Apartment.

5. Tag: Speed Dating in Mindelo

5:00 Uhr aufstehen, und das in dem Land, in dem „No stress“ auf jedes zweite Souvenir gedruckt wird. Der Unterricht in der Escola Salesiana startet früh, die Schüler werden hier in zwei Schichten unterrichtet - sonst wären zu wenige Räume für alle Schüler da.  Wir sind heute die ersten beiden Stunden im normalen Unterricht. Im Matheunterricht blühen wir richtig auf, es geht um quadratische Gleichungen. Danach fängt unser Schulmarathon an, der heute Vormittag auf dem Plan steht. Ein Bus fährt uns und die Gruppe aus der Escola Salesiana schnell direkt nach Stundenende in die Lima Schule. Der Direktor und Handballcoach der Schule stellt uns fünf etwas aufgeregte Schüler vor, die  „involved in the project“ sind. In unser Projekt? Ah, nett sind sie auf jeden Fall. Im Minutentakt werden uns dann beim Rundgang enthusiastisch Menschen vorgestellt, mit denen wir uns kurz unterhalten. Alle scheinen ganz begeistert zu sein, dass wir da sind. Dann kommen wir in einen Raum, in dem zwei Tische voll Essen stehen, eine Art Mini-Mensa. Herr Wentorfs Kommentar: „It´s great, something like this I would like to have, too“. Er meinte in Germany. Der kapverdische Lehrer macht sofort  eine Ansage “You can eat, you can eat!” und lässt ein paar Tische in der Mitte des Raumes zusammen schieben. Herr Wentorf etwas peinlich berührt: „Oh, äh sorry, das meinte ich jetzt nicht“… Das Essen war aber super lecker und wir haben uns richtig gut mit den anderen Schülern dort verstanden. Und schon lotst man uns wieder in den Bus. Es geht zur Escola Barbossa. Dort treffen wir Jenny, die schon früher am Projekt gearbeitet hat. In der Bücherei kommt uns ein hochmotivierter Mathelehrer entgegen. Er hört nicht mehr auf zu reden; er fragt mehrfach nach dem Wort „Zahl“ oder „Zahlen“. Das beschäftigt ihn schon sehr lange und ist „very really high important“ für ihn. Dann erzählt er mit leuchtenden Augen eine Mathematikgeschichte nach der nächsten. Wer hätte gedacht das Plus- und Minuszeichen in Norddeutschland auf mittelalterlichen Märkten entwickelt wurden. Nachmittags starteten wir dann unsere Befragungen. Wir mussten nur ein oder zwei Kapverdianer fragen, danach rissen sie uns unsere englisch-portugiesischen Fragebögen regelrecht  aus der Hand. Danach haben wir uns aufgeteilt und sind in Gruppen für Interviews und uns unsere Kartierungserprobung in die Stadt gezogen. Abends treffen wir direkt im Anschluss die Englischlehrerin Peggy, Biolehrerin Artemisia und ihre Söhne. Der Tag endet wieder mit Stromausfall und zufriedener Müdigkeit. Im Kerzenschein schreiben wir unser Tagebuch.

6. Tag: Ein Plastikschuh aus dem Senegal

Heute geht es gleich nach dem Aufstehen um 05:45 Uhr auf Tour in unserem Minibus aus den Achtzigern. Dicht gedrängt sitzen wir mit unseren kapverdischen Partnerschülern, den Lehrern und Herrn Reitmeier mit Hund Oskar. Während der etwas schaukligen Fahrt quer über die bergige Insel können wir die ganze Natur sehen: Überall Berge und Täler aus Stein, dazwischen nur ein paar Büsche und hin und wieder etwas angebauter Mais und Bohnen. Dann starten wir unsere Kartierung an den Vulkanen. Dort erwartet uns ein wunderschöner Blick über eben jene Vulkane, die Berge, das Meer und einige weitere Inseln der Kap Verden als ferne Schemen im Dunst, der über dem  Wasser liegt. Und schon geht es los: Das Mapping. Bianca und Jeanette erklären den anderen kurz das Verfahren und teilen ihre vorbereiteten Tabellen aus. Alle 1000 großen Schritte werden drei Quadrate in bestimmter Entfernung von der Wasserlinie kartiert. Etwas schwierig wird es immer dann, wenn der Strand aufhört und wir uns längere Strecken an den Hängen aus größeren und kleineren Steinen vorantasten. Bis auf ganz wenige Badeabschnitte zwischendurch ist wirklich die ganze Küste komplett voll mit Plastikmüll: Flaschen, Verpackungen und ganz viel Fischereimaterial. Nicht zu vergessen ein Computer, ein Damenschuh aus dem Senegal und eine Cola aus Casablanca. Fast alles wird aus dem Meer angespült. Da will man nicht wissen, was alles noch im Atlantik rumschwimmt. Auch das Mikroplastik kann man fast überall am Strand heraus sieben. Insgesamt arbeiten wir an neun Messpunkten. Die letzten 5 der 15 km laufen wir dann einfach so. Am Ende kommen wir am späten Nachmittag am Kinderstrand von Sao Vicente an, „das Gatas“. Gatas steht für Katzenhaie, aber die sind nur einen Meter lang und tun den Kindern und uns nichts. Mit Ausnahme von Meret haben wir alle etwas davon getragen: Bianca einen Sonnenbrand im Gesicht, Jeanette einen Sonnenbrand im Gesicht und einen im Nacken und Herr Wentorf hat jetzt seinen jährlichen kapverdischen Überallsonnenbrand. An den abendlichen Stromausfall haben wir uns inzwischen gewöhnt.  

7. Tag: Die Bauern von Sao Vicente

Freitag können wir –unglaublich - bis halb acht schlafen. In der Escola Salesiana gehen wir in einen Bioraum mit herrlich kuehlen Steinplatten auf den Tischen. Nachdem wir aufgebaut haben, erscheint die Klasse unserer drei Kapverdianer, um mit uns die Sandproben von gestern zu mikroskopieren und auszuwerten. Wir finden bei den Vorversuchen auch in Zahnpasta, Peeling und Clearasil Mikroplastik. Aus dem Sand fischen wir kleine weiße Pellets, trennen sie und mikroskopieren. Mit Salzwasser überprüfen wir die Dichte und mikroskopieren sie. Am Nachmittag hatten wir das wohl einschneidendste Erlebnis der Fahrt (vielleicht sogar meines Lebens). Herr Reitmeier führt uns in das Gebiet Sao Vicentes, wo mithilfe einer Art Kläranlage Landwirtschaft betrieben wird. Ein Projekt: Jeder Bauer hat 3000 Quadratmeter Land bekommen, das er mit unterschiedlichen Früchten bebaut von Knoblauch über Mangos, Papayas bis Bananen. Wir sprechen sehr offen und vertraut mit drei Bauern. Ich will nicht viel sagen, aber einem Menschen mit diesem Leben gegenüber zu stehen, mit diesem Leben, diesen Problemen hat mich tief beeindruckt! So etwas habe ich noch nie erlebt. Das Tor zu einer anderen Welt ist ärmlich und besteht aus zwei Pfosten. Dahinter liegt das Land der Bauern von Sao Vicente. Sie kommen alle von Santo Antao, der grünen Insel. Die anderen können es nicht, haben nicht das Wissen; kennen Boden, Pflanzen, Sonne, Wind und Wasser nicht so gut. Woher sie wissen, dass gerade jetzt in der Ecke Zeit ist Süßkartoffel zu säen? Na das sehen sie doch.  Es gibt Leute, die versucht haben das zu verstehen, traditionelle afrikanische Agarkultur. Da ist von Indikatorpflanzen die Rede, von einem auf den ersten Blick unstrukturierten Fruchtwechsel. Das Prinzip Sicherheit durch Vielfalt. Wenn eine Sorte Bohnen nicht wächst, wächst vielleicht die andere. Übrigens gab es in Afrika vor der Kolonialisierung nicht nur Wanderfeldbau sondern know how für eine nachhaltige Landwirtschaft. Später geriet das Wissen vieler Generationen in Vergessenheit. Das sind die Fakten. Man kann sie erzählen, aufschreiben, dabei lachen, weinen, wütend oder zufrieden über das eigene Leben sein. Wären die Felder leer, wäre es egal, aber das sind sie nicht. Man begegnet echten Menschen, die mit nackten Füßen, zerschlissenem Hemd im Staub der Erde stehen. Sie sind nicht wütend, lachen und weinen nicht.”Wir haben zu wenig Wasser”, “Arbeiten können wir, nur haben wir kein Geld mehr für die Saat”, “Die Heuschrecken haben meine Ernte gefressen”, “Meine Familie ist auf Santo Antao” . Man kann alles in Erdkundebüchern lesen, aber kaum jemand hat diesen Menschen mal gegenüber gestanden. Ihre Stimmen gehört, ruhige Stimmen, in ihre Augen geschaut und auf ihrer Erde gestanden. Und ich möchte behaupten, man muss das alles getan haben, um “Wir haben kein Wasser” und “Ich habe kein Geld mehr” völlig zu begreifen. Es gibt einen Unterschied zwischen verstehen und begreifen. An diesem Freitag habe ich begriffen.   Danach - Kontrastprogramm. Jan und Meret treffen einige Kapverdianer. Mit einer Schülergruppe von 10 Leuten laufen wir in die Stadt, sprechen über Weihnachten, spannende Geheimnisse und Musik. Nach einiger Zeit beginnt die Gruppe zu zerbröseln und nach eineinhalb Stunden ist nur noch Jenny da. Wir lassen uns vom Taxi nach Hause fahren. In der Küche diskutieren wir über unsere verbesserungsfähige Welt, in der wir leben. Und bitte, das meine ich ernst, let´s make it better.  

8. Tag: Spartanisches Leben im Paradies

Wieder früh aufstehen, um sieben müssen wir an der Fähre sein. Der bestellte Pickup lässt auf sich warten. Am Hafen treffen wir Biolehrerin Mimi, einen Englischlehrer und Edney, Mimis sechsjährigen Sohn. Fröhlich, ein bisschen müde und vielleicht ein bisschen zu naiv betreten wir die Fähre. Es geht los, das Schiff legt ab, passiert die Bucht, die für das Entstehen Mindelos verantwortlich ist, und die mittendrin aufragende Felsspitze mit Leuchtturm. Wir bewegen uns in jenes Ozeangebiet zwischen Sao Vicente und Santo Antao, das auf allen Karten so harmlos und klein aussieht. Die wiegenden Bewegungen scheinen einem Mädchen zwei Plätze weiter zu schaffen zu machen. Die körperliche Reaktion darauf folgt sofort. Als eine Frau, Passenger Assistent, beginnt, massenweise schwarze Beutel für eben solche besagten körperlichen Reaktionen zu verteilen, wird uns klar, dass das hier nicht ganz so lustig wird wie angenommen. Bianca wird immer blasser. In kürzester Zeit beginnt fast die Hälfte der Menschen um uns herum sich ihres Mageninhalts zu entleeren. Irgendwann auch Bianca und Jan, der den Satz „Habt ihr noch mal ne Tüte“ gar nicht mehr zu Ende bringen kann. Die Situation wirkt insgesamt nur noch skuril. Nach für einige von uns sicherlich endloser Zeit erreichen wir den Hafen von Santo Antao. Am Hafen buksiert uns ein hektischer Kapverdianer in seinen Bus, in dem schon eine Dreatlock tragende kapverdische Band sitzt. Etwas mehr als anderthalb Stunden fahren wir auf der Küstenstraße, unter uns der tobende Ozean, der die vorgelagerten Felsen seine ganze Kraft spüren lässt. Wir erreichen ein Dorf und frühstücken in einem namenlosen Restaurant, in dem die ganze Zeit Reggae läuft. Dann folgt die Inselerkundung mit dem Bus, überall steigen wir mal aus und erkunden. Diese Insel scheint ein Paradies auf Erden zu sein. Überall grünt es, Früchte an Bäumen und Büschen, wo man hinsieht. Nach unseren Erlebnissen gestern scheint das ungerecht. Aber Santo Antao hat höhere Berge und die fangen die Wolken ab. Wie in den Alpen, nur hier wachsen Papayas, Eukalyptus, Brotfrucht und Zuckerrohr, aus dem Rum gemacht wird. Nach dem Mittagessen im Reggaerestaurant verlassen uns Bianca, Jeanette und Sally. Wir anderen fahren weiter. Irgendwann halten wir mitten in einem Tal an einem 40 Jahre alten, kleinen Schwimmbad, einer vergessenen Attraktion der Insel, die keiner mehr kennt. Der Pool ist gefüllt, Edney fängt Mimi Fische daraus. Wir gehen inzwischen ein Stück an einem der unzähligen Bächlein und Wasserfälle entlang. Der Weg endet im Bach und wir drehen um. Drei kleine Jungen führen an einer Leine drei große Kühe und ein Kalb zum Bach, lassen sie frei neben uns trinken. Teil einer solchen Szenerie war ich noch nie. Santo Antao ist das Gegenteil von Sao Vicente mit dem sprudelnden Mindelo und dem trockenen Nichts dahinter. Alles ist ruhig, man hört nur Natur. Die Hauser sind auf Hänge verstreut, als hätte jemand eine Tüte ausgekippt. Die Nacht verbringen wir in einer Übernachtungsmöglichkeit an einem Berghang. Gelb mit verwilderter Terrasse. Es gibt drei große Räume. Ich habe noch nie eine Nacht so spartanisch verbracht. Es befinden sich nur ganz schmale Metallstockbetten mit Pappe ausgelegt darin und ein Metallschrank. Oben an der Decke sieht man über den Balken die nackten Dachziegel. Darunter hängen handgroße Spinnen, wegen denen Mimi das Licht anlässt. Trotz allem schlafen wir fast zehn Stunden, wenn auch mit Unterbrechungen.  

9. Tag: Der erste Advent

Dieser Tag ist der heißeste der ganzen Reise und beginnt auf Santo Antao. Auf der Terrasse ist es zum Zerfließen warm. Der Vormittag wird mal komplett kapverdisch spontan. Wir haben keine Pläne heute und wollen auch keine machen. Das haben wir uns verdient. Nach dem Frühstück gehen wir einfach mal in die Kirche. Viele sind hier sehr gläubig und es fällt auf, wie viele Konfessionen es hier gibt. Katholiken allen voran, dann Nazarenen und Mormonen, mit denen wir uns vorher mal im Internetcafe unterhalten haben. Die Musik, die aus vielen Kirchen strömt, klingt wie Gospelmusik, die laut und glücklich heraus gesungen werden. Auf dem Weg zur Unterkunft unterhalten wir uns mit den Kapverdianern über Gott und die Welt. Überhaupt fällt auch bei allen Schülern hier auf, dass es keinen Standard-Smalltalk aus stereotypen Satzbausteinen gibt. In einem Moment geht es bei uns um Musik aus den Charts, im nächsten um Freunde, Familie und unsere Einstellungen zum Leben. Bevor wir unsere Sachen aus der Unterkunft holen, gehen wir in eine Art Palmengarten, in dem eine Frau auf einer Feuerstelle in einen verrußten Kessel Cachupa kocht. Wir gucken Jan und Edney beim Ballspielen zu, unterhalten uns oder träumen vor uns hin. Wir erfahren, dass eine Frau etwas abseits der Straße oben auf dem Berg Papayas verkauft. Wir balancieren über eine Begrenzung kleiner Wasserbächlein, krabbeln durch eine Bananenplantage und erreichen so die Veranda eines kleinen Häuschens. Sie schenkt uns ihre letzte Papaya und packt uns den Rest ein. Alexis sagt, es wäre immer so auf Santo Antao. Man geht nie mit leeren Händen, wenn man irgendwo hingeht. Wir haben vorher gehört, dass die Geschenke für Nachbarn und Freunde hier ganz wichtig sind für das Sozialleben. Irgendwann braucht man selbst Hilfe, für ein Medikament des kranken Kindes und kann sich dann auch auf die anderen verlassen. Wir merken, aber jetzt selbst, dass es nicht überlegt ist, nicht kalkuliert. Es wirkt freundlich und bedingungslos. Dann zurück im Personen-Waren-Transport-Kleinbus, dessen Prinzip wir immer noch nicht ganz verstanden haben, zum Hafen, der schon stark an das laute Mindelo erinnert. Für Kapverdianer ein depresssiver Ort: „You feel like the party is over“. In unserem Apartment in Mindelo angekommen planen wir im müden Zustand in der Küche die morgige Abschlusspräsentation bei Kerzenschein und Schwarz-Weiß-Gebäck von Jan (es ist ja schließlich Advent) bevor wir ins Bett fallen.  

10. Tag: Zurück in die Zukunft?

Unsere Exkursion geht dem Ende entgegen. Ein letztes Mal ganz früh aufstehen, ein letztes Mal Frühstück von Manuel... Heute haben wir unsere Präsentation vor uns. Wir werten noch fleißig unsere Fragebögen aus, basteln an Diagrammen, lesen Interviews und rechnen dreimal nach bei unseren Ergebnissen der Kartierung am Atlantik: Unglaublich an dem eher kleinen Abschnitt der Küste kommen wir auf über 120.000 Plastikflaschen, die dort angespült wurden, wenn unsere 27 ausgezählten Quadrate halbwegs repräsentativ waren. Wow. Und das war nur ein Teil der Küste. Fischereimaterial lag da noch viel mehr rum. Wie viel ist denn jetzt noch im Atlantik? Und wann wird das alles zu Mikroplastik? Zugegeben haben wir noch nicht so viele Fische gesehen, die voll mit Plastik waren. Aber wenn man mal überlegt, wie lange das Plastik da erst drin ist und wie lange vieles davon noch braucht bevor es vielleicht gefährliches Mikroplastik wird...? Für die Menschen in Mindelo wäre es eine Katastrophe, wenn mal keine oder nur noch wenige Fische da wären. Aber jetzt geht es weiter: Bei den Bildern, die unsere Powerpoint etwas veranschaulichen, kommen uns wieder plötzlich alle möglichen lustigen, spannenden und nachdenklichen Erinnerungen der letzten Woche hervor. Dann noch ein kurzes Mittagessen, das uns nicht vergönnt wurde. Fleisch haben wir in unserem Eintopf fast gar nicht gefunden, dafür fast nur Knochen, etwa eine halbe Hand voll pro Teller. Die einzigen, die gerade voll in ihrem Element sind, sind Sally und Herr Wentorf. Das Puzzlespiel der Biologen zu Schlüsselbein, Rippen oder Unterschenkelknochen im Eintopf kann man ja noch nachvollziehen. Als sie dann anfangen im Ausschlussverfahren herauskriegen zu wollen, welche Tiere es (nicht) sind, gehen einige von uns doch liebe direkt zu ihrem Nachtisch über. Jetzt aber schnell in die Aula der Schule, kurz aufbauen und letzte Absprachen mit den Kapverdianern. Trotz zwei oder drei kleinen Irritationen, wer wann übersetzt, haben wir es jetzt mit gutem Gefühl geschafft. Wir reden noch lange mit den anderen Schülern und können uns nur schwer verabschieden. Alle echten und virtuellen Adressen sind ausgetauscht und wir hoffen, dass wir uns auch wieder real wiedersehen. Nach einem letzten Treffen mit Mimi sitzen wir abends bei selbstgebastelten Windlichtern aus 5Liter-Wasserkanistern auf der Terrasse und essen unsere inzwischen gelben Bananen. Wir werden alles hier sehr vermissen. Jeder hat ganz andere Sachen von der Fahrt mitgenommen, die uns bestimmt immer begleiten werden. Vom Mikroplastik bis zur ganz besonderen Menschlichkeit in Mindelo. Auf einige Sachen zuhause freuen wir uns jetzt aber mehr als je zuvor.  Good Bye, Kap Verde!